Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod by Jäger Gerhard

Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod by Jäger Gerhard

Autor:Jäger, Gerhard
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: d-Blessing
veröffentlicht: 2016-08-03T12:13:28+00:00


VOR DREI TAGEN

Mittwoch

Noch immer sind keine Berge zu sehen. Noch immer hängen graue Tücher über der Stadt. Noch immer glitzern die Straßen, nass von Regentropfen, noch immer sehe ich, wenn ich von meinem Fenster aus nach unten schaue, keine Menschen, sondern Regenschirme, die die enge Gasse vor meinem Hotel entlanggehen, Autos ausweichen, kurz das Wasser von den Schirmen schütteln.

Es ist der dritte Tag in Innsbruck. Ich stehe wie jeden Morgen am Fenster. Interessant, wie schnell der Mensch Gewohnheiten entwickelt. Meine rechte Hand liegt auf dem Fensterbrett, sie zittert, das tut sie seit Jahren. Am Anfang tat sie es unmerklich, rücksichtsvoll, sodass ich sie oft selbst lange beobachtete, um festzustellen, ob ich mich vielleicht täuschte. Manchmal in jenen Tagen habe ich ein Glas Wasser in die Hand genommen, um zu sehen, ob sich die Wasseroberfläche bewegt. Aber das war keine verlässliche Methode, denn auch mit der linken Hand, die nicht von dem Zittern befallen war, konnte ich das Glas nicht so ruhig halten, dass das Wasser unbeweglich blieb. Mittlerweile hat die Hand jegliche Scheu verloren, sie zittert immer. Ich weiß nicht, was es ist, Alzheimer vielleicht, Parkinson, ich habe bis jetzt noch keinen Arzt aufgesucht, ich will meinem Feind noch keinen Namen geben.

Und jetzt stehe ich, ein übermüdeter Greis mit weißen Haaren, weißem Bart und einer zitternden Hand, in einem Hotelzimmer in Innsbruck und sehe keine Berge. Die Hand zittert stärker als sonst. Das überrascht mich nicht. Ich bin erschöpft, ich merke, dass es an der Zeit wäre, ein Taxi zu rufen, zum Flughafen zu fahren und ein Flugzeug zu finden mit einer Stewardess in einem himmelblauen Kleid und himmelblauem Lächeln, die einen alten Mann an der zitternden Hand nimmt und an seinen Platz führt. Doch ich kann nicht weg, nicht, bevor ich Schreibers Manuskript ganz gelesen habe, nicht, bevor ich das zu Ende gebracht habe, weswegen ich hergekommen bin.

Wenn ich an gestern zurückdenke, an den Lesesaal im Landesarchiv, merke ich, dass ich mich nicht an alles erinnern kann. Ich weiß noch, dass ich das in Leder gebundene Buch zugeschlagen habe, hastig, schnell, so als könnte ich damit die Flammen ersticken, die aus den letzten Seiten von Schreibers Bericht geschlagen sind wie aus der Scheune der Kühbauers, doch gleichzeitig war mir klar, dass das nicht gelingen würde, dass dieser Brand schon auf meinen Kopf übergegangen war, dass darüber schon die Flammen zusammenschlugen und eine alte Erinnerung in meinem Inneren auftauchte, eine furchtbare Erinnerung, eingebrannt in mein Gehirn, die Erinnerung an ein Haus, das in Flammen steht. Ich sprang auf, als könnte ich sie so vertreiben, und ging im Lesesaal, der sich schon geleert hatte, auf und ab, auf der Flucht vor den inneren Bildern, auf der Flucht vor den Flammen auf Rosalinds Grabstein, auf der Flucht vor Rosalind in dem brennenden Haus, und ich weiß nicht, wie lange dieser Zustand gedauert hat, ich weiß nicht, ob ich mit mir selbst geredet habe, ich weiß nur, dass mich plötzlich jemand am Arm fasste und eine besorgte Stimme durch die Flammen hindurch zu mir drang.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.